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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Stuttgart
Urteil verkündet am 20.07.2005
Aktenzeichen: 4 U 81/05
Rechtsgebiete: SGB VIII, BGB, GG


Vorschriften:

SGB VIII § 42
SGB VIII § 43
BGB § 839
GG Art. 34
1. Stimmt der Sorgeberechtigte im Rahmen einer vorläufigen Maßnahme des Jugendamts zum Schutz von Kindern oder Jugendlichen einer Unterbringung des Kindes oder Jugendlichen bei Pflegeeltern zu, sind die Mitarbeiter des Jugendamts lediglich verpflichtet, die Pflegeeltern sorgfältig auszuwählen und durch Kontrollen zu überprüfen.

2. Eine etwaige Pflichtverletzung der Pflegeeltern bei der Betreuung des Kindes oder Jugendlichen ist in diesen Fällen dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nicht als Amtspflichtverletzung zuzurechnen.


Oberlandesgericht Stuttgart 4. Zivilsenat Im Namen des Volkes Urteil

Geschäftsnummer: 4 U 81/05

Verkündet am 20. Juli 2005

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatz

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart auf die mündliche Verhandlung vom 06. Juli 2005 unter Mitwirkung von

Richter am Oberlandesgericht Dr. Herdrich Richter am Oberlandesgericht Schüler Richter am Landgericht Rieger

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 18.02.2005 (7 O 560/03) wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin Ziff. 1 trägt 4/5, die Klägerin Ziff. 2 trägt 1/5 der Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

Streitwert. 60.000,- €

Gründe:

I.

Die Klägerinnen machen gegen den beklagten Landkreis Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht aufgrund von Sozialleistungen an einen ihrer Versicherten geltend.

Versicherter ist das am 30.11.2000 geborene Kind A.. Es wurde im Säuglingsalter in einer Wohngemeinschaft in R. vorgefunden. Bei einem unangemeldeten Hausbesuch des Jugendamts am 11.01.2001 befand sich das Kind in Gesellschaft zweier Männer und zweier Kampfhunde, wobei es in einer schmutzigen Decke eingewickelt auf dem Sofa lag. Die drogenabhängige und wohnsitzlose Mutter war nicht anwesend. Auf Veranlassung des Jugendamts wurde das Kind bei einer Pflegefamilie untergebracht. Die Familie war seit 1999 in einer Liste für Pflegeeltern aufgenommen und bereits als Pflegefamilie eingesetzt gewesen. Sie war auf die Versorgung eines Säuglings eingestellt, die Pflegemutter hat selbst drei Kinder und ist von Beruf Kinderkrankenschwester. Am 12.01.2001 unterschrieb die leibliche Mutter des Kindes ein Formular des Jugendamts, das nach dem Vordruck die Gewährung von Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz betrifft. Das Kind wurde von einer Mitarbeiterin des Jugendamts bei den Pflegeeltern besucht, ein weiterer Besuchstermin mit der Mutter wurde von dieser verschoben. Am 22.01.2001 wurde das Kind mit schwersten Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Es ist seither zu 100 % schwerbehindert. Nach der Darstellung der Pflegemutter war das Kind auf einer Wickelauflage auf der Waschmaschine gelegen. Der Unfall soll sich so zugetragen haben, dass die Tochter der Pflegemutter auf einem Kinderhocker stehend zugesehen und das Baby gestreichelt habe. Dabei sei die Tochter ins Straucheln gekommen. Während die Pflegemutter versucht habe, ihre Tochter vor einem Sturz zu bewahren, habe diese reflexartig an der Wickelauflage gezogen. Hierdurch sei das Pflegekind auf der anderen Seite heruntergefallen und mit dem Kopf an ein Waschbecken angeschlagen. Diese Darstellung wird inzwischen u. a. von der Mutter des Kindes in Zweifel gezogen. Die Klägerinnen sind der Auffassung, dass der Landkreis wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht und wegen Vertragsverletzung hafte. Auch sei das Verschulden der Pflegemutter dem Landkreis zuzurechnen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Ein Amtshaftungsanspruch sei nicht gegeben, da eine Verletzung von Amtspflichten durch die Mitarbeiter des Jugendamtes nicht vorliege. Eine unmittelbare Betreuungspflicht durch das Jugendamt bestehe nicht. Dabei könne dahinstehen, ob lediglich eine vorläufige Maßnahme (§§ 42, 43 SGB VIII) oder bereits eine Jugendhilfemaßnahme (§ 33 SGB VIII) vorliege. Aufsichts- und Kontrollpflichten seien nicht verletzt. Eine Haftung des Landkreises für die Pflegeeltern als Verrichtungsgehilfen scheide aus. Auch vertragliche Ansprüche und Schadensersatzansprüche wegen Pflichtverletzung bei einer Geschäftsbesorgung ohne Auftrag seien nicht gegeben.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.

Die Klägerinnen machen mit der Berufung geltend, die Mutter des Kindes habe das Formular des Jugendamts nur unterschrieben, weil im Falle der Weigerung mit der Anrufung des Familiengerichts gedroht worden sei. Das Formular sei nachträglich verändert worden, tatsächlich habe nur eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII vorgelegen. Der Beklagte habe aufgrund der Inobhutnahme des Kindes sorgerechtliche Befugnisse wahrzunehmen; haftungsrechtlich sei er wie ein Vormund zu behandeln. Die Pflegeeltern seien als Teil des Beklagten anzusehen. Außerdem hafte der Beklagte für die Pflegeeltern gemäß § 278 BGB. Es bestehe ein Bereitschaftspflegevertrag. Der dargelegte Unfallhergang sei physikalisch unmöglich, auch liege bereits nach der Unfallschilderung der Pflegemutter eine Sorgfaltspflichtverletzung vor.

Die Klägerinnen beantragen:

1. Das Urteil des Landgerichts Tübingen vom 18.02.2005 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, an die Klägerin Ziffer 1, 42.531,15 € nebst 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 17.07.2003 und an die Klägerin Ziffer 2, 8.311,31 € zuzüglich 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus seit 17.07.2003 zu bezahlen.

2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerinnen allen zukünftigen Schaden aus dem Unfallereignis vom 22.01.2001 zu bezahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die Ausführungen des Landgerichts in dem angefochtenen Urteil.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

1.

Ein Schadensersatzanspruch aus Amtshaftung gemäß § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG, der nach § 116 Abs. 1 SGB X auf die Klägerinnen übergegangen sein könnte, besteht nicht. Eine Verletzung von Amtspflichten der Mitarbeiter des Jugendamts liegt nicht vor. Auch wäre eine etwaige Pflichtverletzung der Pflegemutter nicht dem Beklagten als Amtspflichtverletzung zuzurechnen.

a) Die vorläufige Schutzmaßnahme des Jugendamts, das Kind aus der Wohngemeinschaft herauszunehmen und in die Obhut von Pflegeeltern zu geben, war rechtmäßig.

aa) Zum Aufgabenkreis der Jugendhilfe gehört der Schutz akut gefährdeter Kinder und Jugendlicher durch vorläufige Maßnahmen gemäß den §§ 2 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 2, 42, 43 SGB VIII. Für das Handeln der Mitarbeiter des Jugendamts ist vorliegend die Regelung des § 43 SGB VIII maßgebend. Die Regelung in § 42 SGB VIII schafft eine Rechtsgrundlage für die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen, die sich in der Öffentlichkeit, also an allgemein zugänglichen Orten, aufhalten. Die Vorschrift über die Herausnahmebefugnis nach § 43 SGB VIII greift demgegenüber ein, wenn sich ein schutzbedürftiges Kind mit Zustimmung des Sorgeberechtigten bei einer anderen Person aufhält (Jans/Happe/Saurbier, Kinder- und Jugendhilferecht, 3. Aufl., Vorbem. §§ 42, 43, Rn. 11, § 42, Rn. 4 und § 43, Rn. 4; Schellhorn-Mann, SGB VIII/KJHG, § 43, Rn. 1). Letzteres war hier der Fall. Das geschädigte Kind wurde von seiner wohnsitzlosen Mutter in einer Wohngemeinschaft hinterlassen.

bb) Die Voraussetzungen für die Herausnahme des Kindes gemäß § 43 Abs. 1 SGB VIII lagen vor. An dem Aufenthaltsort, an dem sich das Kind mit Zustimmung der sorgeberechtigten Mutter befand, war das Kindeswohl i. S. von § 43 Abs. 1 SGB VIII i. V. mit § 1666 BGB gefährdet. Eine Gefährdung liegt insbesondere dann vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch Vernachlässigung des Kindes oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Aufgrund der Auffindesituation des Säuglings, der verschmutzt war und sich in der Gesellschaft insbesondere von zwei Kampfhunden befand, bestand die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingreifen das Kind geschädigt wird. Auch war - nach Auskunft der anwesenden Männer - nicht zu erwarten, dass die drogenabhängige Mutter, die ihr Kind nur selten betreute und telefonische Anweisungen zur Versorgung gab, Abhilfe schaffen will und kann. Darüber hinaus lag Gefahr im Verzug vor. Eine richterliche Anordnung hätte nicht mehr eingeholt werden können, ohne dass der Zweck der Maßnahme, eine Gefährdung rechtzeitig abzuwenden, vereitelt oder erschwert worden wäre (Wiesner u. a., SGB VIII, 2. Aufl., § 43, Rn. 10). Die Auffindesituation ließ eine akute und gravierende Gefährdung des Säuglings erkennen, weshalb eine weitere Verzögerung nicht vertretbar war. Insofern war auch ein milderes Mittel nicht geben und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt.

cc) Die Unterbringung, die dann einer Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) entspricht (Schellhorn-Mann, a.a.O., § 43, Rn. 6), erfolgte bei geeigneten Personen. Die Auswahl der Pflegeeltern wird von den Klägerinnen nicht beanstandet. Die Pflegeeltern waren erfahren und auf die Versorgung eines Säuglings eingestellt, die Pflegemutter hat selbst kleine Kinder und ist von Beruf Kinderkrankenschwester.

dd) Die sorgeberechtigte Mutter, die unverzüglich verständigt wurde (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII), stimmte am Folgetag der vorläufigen Unterbringung des Kindes bei Pflegeeltern zu, so dass eine Entscheidung des Familiengerichts nicht mehr erforderlich war (§ 43 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII). Die Zustimmung der Mutter ergibt sich aus dem von ihr unterschriebenen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, in dem unter Hilfeart "§ 42 KJHG" und im weiteren Text auch die Unterbringung des Kindes angegeben war. Unerheblich ist, ob neben dieser Zustimmung bereits ein Antrag auf Bewilligung einer Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege (§§ 27, 33 SGB VIII) vorlag. Die nachträglichen Anfügungen auf dem Formular bei der Weiterbearbeitung durch das Jugendamt können daher dahinstehen. Die Überleitung in eine dauerhafte Hilfemaßnahme war angesichts des erkennbaren Hilfebedarfs jedenfall beabsichtigt. Um ein Geldbewilligungsformular handelte es sich - entgegen der Auffassung der Klägerinnen - jedenfalls nicht. Leistungen der Jugendhilfe sind die Angebote nach § 2 Abs. 2 SGB VIII, insbesondere der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII.

Die Mutter war zu einer Zustimmung berechtigt. Dabei ist nicht entscheidend, ob der Mutter das alleinige Sorgerecht zustand. Es genügt in der Regel, wenn ein sorgeberechtigter Elternteil Anträge auf Hilfe zur Erziehung stellt (Schellhorn, a.a.O., § 27, Rn. 15). Das gleiche muss für die Zustimmung zu den vom Jugendamt veranlassten vorläufigen Schutzmaßnahmen gelten. Auch kann im Rahmen einer einvernehmlichen Aufgabenteilung (§ 1627 BGB) ohnehin jeder Sorgeberechtigte allein handeln, wobei vorliegend die Ausübung des Sorgerechts allein der Mutter überlassen war.

Die sorgeberechtigte Mutter wurde nicht in rechtswidriger Weise zu einer Zustimmung gezwungen. Nach Auffassung des Senats wurde von den Klägerinnen kein Sachverhalt dargelegt, der als Nötigung durch die Mitarbeiter des Jugendamts angesehen werden kann. Zwar haben die Klägerinnen bereits in erster Instanz geltend gemacht, die Mutter sei mit einem Gerichtsverfahren bedroht worden, mit dem man ihr die Sorge für das Kind entziehen lassen würde, wenn sie den Antrag nicht unterschreibe. Hierin hat das Landgericht aber zutreffend nur einen Hinweis auf die Gesetzeslage (§§ 42 Abs. 2 Satz 3, 43 Abs. 2 SGB VIII) gesehen, der nicht rechtswidrig ist. Mit dem in der Berufungsverhandlung gestellten Beweisantrag wird das erstinstanzliche Vorbringen lediglich wiederholt, worauf der Klägervertreter auch hingewiesen hat. Wenn die Mutter mit der Unterbringung nicht einverstanden gewesen wäre, hätte es außerdem nahe gelegen, durch Verweigerung der Zustimmung selbst eine Entscheidung des Familiengerichts herbeizuführen, das dann unverzüglich hätte angerufen werden müssen. Dieser Weg wurde nicht beschritten. Außerdem hat die Mutter des Kindes ihre Zustimmung auch durch die Vereinbarung eines Besuchstermins bei den Pflegeeltern für den 17.01.2001 bekräftigt, wobei der vereinbarte Termin später von der Mutter noch um eine Woche verschoben wurde. Dass die Mutter den genauen Aufenthaltsort des Kindes nicht kannte, kann dabei dahinstehen.

b) Die Mitarbeiter des Jugendamtes haben im Rahmen der vorläufigen Schutzmaßnahme auch keine Aufsichtspflichten verletzt.

aa) Während der Herausnahme bzw. Inobhutnahme des Kindes übt das Jugendamt gemäß den §§ 43 Abs. 2, 42 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII das Recht der Beaufsichtigung, Erziehung und Aufenthaltsbestimmung aus, wobei der mutmaßliche Willen des Personensorgeberechtigten angemessen zu berücksichtigen ist. Dass mit der Ausübung der genannten Teilrechte durch das Jugendamt auch Pflichten verbunden sind, ergibt sich bereits aus dem Schutzzweck der Maßnahme, aber auch aus der Verpflichtung, gemäß §§ 43 Abs. 2, 42 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII für das Wohl des Kindes zu sorgen. Die Ausübung der Rechte des Jugendamts stellt sich daher als Wahrnehmung eines öffentlichen Amtes dar, dessen schuldhafte Verletzung eine Amtspflichtverletzung begründen kann.

bb) Es kann entgegen der Auffassung des Beklagten nicht angenommen werden, dass die vorläufige Maßnahme zum Zeitpunkt der Schädigung des Kindes bereits beendet oder in eine Vollzeitpflege nach den §§ 27, 33 SGB VIII übergeleitet war. Allein mit der Unterrichtung des Personensorgeberechtigten und dessen Zustimmung in die Inobhutnahme ist die vorläufige Schutzmaßnahme noch nicht beendet (BVerwG NVwZ-RR 2005, S. 119; Wiesner u.a., a.a.O., § 42, Rn. 8d; Schellhorn-Mann, a.a.O., § 42 Rn. 11; Röchling in LPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 42, Rn. 9; a. A.: Jans/Happe/Saurbier, a.a.O., § 42 Rn. 40 u. § 43 Rn. 26). Die Inobhutnahme endet auch bei Zustimmung des Sorgeberechtigten erst, wenn akzeptable Perspektiven entwickelt wurden und eine Entscheidung über die gebotene Hilfe herbeigeführt ist. Als vorläufige Unterbringung und vorläufige Schutzmaßnahme im Sinne einer Krisenintervention bleibt die Inobhutnahme darauf gerichtet, die Krisensituation zu beseitigen bzw. ihr mit geeigneten Hilfsangeboten zu begegnen, ohne bereits selbst die vom Gesetz intendierte dauerhafte Lösung erzieherischer Probleme zu sein (BVerwG, a.a.O.). Zudem lag eine Entscheidung über eine Hilfemaßnahme nach den §§ 27, 33 SGB VIII, die auch ein Hilfeplanverfahren voraussetzt (§ 36 Abs. 2 SGB VIII), noch nicht vor. Im Übrigen sprechen für eine vorläufige Maßnahme die von den Klägerinnen vorgelegten Unterlagen des Jugendamts. Unter "Bereitschaftspflege" wird regelmäßig eine Maßnahme i. S. der §§ 42, 43 SGB VIII verstanden (Kunkel in LPK-SGB VIII, § 33, Rn. 7, Schellhorn-Mann, a.a.O., § 42, Rn. 10 und 11, Münder u. a., FK-SGB VIII, § 42, Rn. 23).

cc) Allerdings können die Pflichten des Jugendamtes bei einer Aufnahme in die Bereitschaftspflege, die im Rahmen einer Inobhutnahme mit Zustimmung des Sorgeberechtigten erfolgt, nur darin bestehen, die Pflegepersonen sorgfältig auszuwählen und durch Kontrollen zu überprüfen. Eine eigene unmittelbare Aufsichtspflicht der Mitarbeiter des Jugendamts hinsichtlich der in Obhut genommenen Kinder oder Jugendlichen ergibt sich aus § 42 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII in diesen Fällen nicht.

Das oberste Ziel des SGB VIII ist, die Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe zu unterstützen und ihnen ein an den unterschiedlichen Lebenslagen von Familien orientiertes System von beratenden und unterstützenden Leistungen anzubieten (BGH NJW 2005, 68; BT-Drucks. 11/5948, Vorblatt). Dieses Verständnis für die Aufgaben des Jugendamts, bei der Erziehung vordringlich beratend und unterstützend tätig zu sein, zeigt sich auch in der Ausgestaltung der Befugnisse des Jugendamts bei den vorläufigen Schutzmaßnahmen. Die Vorschrift des § 42 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII soll in Ermangelung sorgerechtlicher Vorgaben durch die Eltern oder das Vormundschaftsgericht eine hinreichende Rechtsgrundlage für das Tätigwerden des Jugendamts schaffen (BT-Drucks. 11/5948, abgedruckt in Jans/Happe/Saurbier, a.a.O., Erl. § 42; B II, S. 4). Ein Verlust des elterlichen Sorgerechts ist damit nicht verbunden (OLG Zweibrücken, FamRZ 1996, 1026). Die Frage nach den Befugnissen, die das Jugendamt bei einem Widerpruch des Sorgeberechtigten bis zur Herbeiführung einer Entscheidung des Familiengerichts hat, spielt vorliegend keine Rolle. Nach Unterrichtung des Sorgeberechtigten und dessen Zustimmung obliegt dem Jugendamt nur noch die Überleitung in eine andere Hilfeform, sofern diese erforderlich erscheint. Aus der Bereitschaftspflege kann sich so eine Vollzeitpflege als Hilfe zur Erziehung i. S. der §§ 27, 33 SGB VIII entwickeln (Kunkel in LPK-SGB VIII, a.a.O, § 33, Rn. 7). In dieser Übergangsphase stehen dem Jugendamt keine Rechte zu, die es gegen den Willen des Sorgeberechtigten ausüben könnte.

Außerdem ist in den Regelungen zur Herausnahme bzw. Inobhutnahme nach den §§ 42, 43 SGB VIII die vorläufige Unterbringung bei geeigneten Personen, in einer Einrichtung oder in einer sonst betreuten Wohnform auch als Fremdunterbringung ausgestaltet. Die Aufnahme nur in eigenen Aufnahmeeinrichtungen der Jugendämter ist nicht vorgesehen. Wie bei anderen Hilfemaßnahmen muss daher auch hier auf Pflegepersonen als geeignete Personen i. S. von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII zurückgegriffen werden. Daraus ergibt sich, dass der Pflichtenkreis des Jugendamts nicht größer ist als bei der Hilfe zur Erziehung durch Vollzeitpflege. In diesem Bereich obliegen dem Jugendamt ebenfalls nur Überwachungspflichten (§§ 37 Abs. 3, 44 Abs. 3 SBG VIII).

Außerdem sollen nach der Grundkonzeption des SBG VIII die Pflegeeltern als Partner des Jugendamts angesehen werden (BGH, a.a.O.; Schellhorn, a.a.O., § 37, Rn. 19). Nach der Inpflegegabe soll ein Minimum an Intervention und ein Maximum an Beratung erfolgen (BGH, a.a.O., Münder u. a., a.a.O., § 44, Rn. 26). Diese Grundsätze gelten jedenfalls auch im Rahmen einer Bereitschaftspflege, wenn diese - wie vorliegend - in eine Hilfemaßnahme gemäß den §§ 27, 33 SGB VIII übergeleitet werden soll.

dd) Entgegen der Auffassung der Klägerinnen haftet das Jugendamt auch nicht wie ein Vormund. Ein Fall der gesetzlichen oder bestellten Amtsvormundschaft (§ 55 SGB VIII) liegt nicht vor. Allerdings zeigt sich auch hier, dass die Pflichten des Jugendamts nicht über Auswahl- und Kontrollpflichten hinausgehen. Die Haftung als Amtsvormunds wäre grundsätzlich nicht anders zu beurteilen wie die Haftung des Vormunds nach § 1833 BGB (BGHZ 9, 255; BGH NJW 1980, 2249). Nach herrschender Auffassung haftet der Vormund gemäß § 1833 BGB bei der zulässigen Übertragung von Aufgaben an Dritte aber nur, wenn er vorsätzlich oder fahrlässig einem ungeeigneten Dritten die Erledigung der Angelegenheit übertragen oder bei der nach Lage des Falles gebotenen Unterweisung oder Überwachung des Dritten etwas versäumt hat (RGZ 76, 185; Staudinger-Engler, BGB, 2004, § 1833, Rn. 40; Palandt-Diederichsen, BGB, 64 Aufl., § 1833, Rn. 5). Die Gegenauffassung (MüKo-Wagenitz, 4. Aufl., 2002, § 1833, Rn. 9) stellt bei der zulässigen Aufgabenübertragung noch darauf ab, ob es sich um Angelegenheiten handelt, die dem Vormund selbst möglich und zumutbar waren; in diesem Fall soll der Vormund für ein Verschulden des Dritten haften. Eine eigene Beaufsichtigung des Kindes durch das Jugendamt scheidet vorliegend aber aus, da das Jugendamt über eigene Aufnahmemöglichkeiten nicht verfügte. Auch nach der genannten Gegenauffassung wäre demnach die Frage der Pflichtverletzung auf die Auswahl und Überwachung der berufenen Personen, hier der Pflegeeltern, beschränkt.

c) Eine etwaige Aufsichtspflichtverletzung der Pflegemutter bei der Betreuung des Kindes wäre der Beklagten nicht zuzurechnen.

aa) Zwar können Beamte im haftungsrechtlichen Sinne auch Privatpersonen sein, die in Ausübung eines ihnen anvertrauten öffentlichen Amtes tätig sind. Erforderlich wäre hierzu aber zunächst die Übertragung hoheitlicher Kompetenzen zur Wahrnehmung im eigenen Namen durch oder aufgrund eines Gesetzes, durch Verwaltungsakt oder verwaltungsrechtlichen Vertrag (MüKo-Papier, BGB, 4. Aufl., 2004, § 839, Rn. 133; Staudinger-Wurm, BGB, 2002, § 839, Rn. 48).

Demgegenüber wurden im vorliegenden Fall die dem Jugendamt zustehenden hoheitlichen Befugnisse, insbesondere solche im Zusammenhang mit den §§ 42, 43 SGB VIII, nicht durch einen hoheitlichen Rechtsakt auf die Pflegeeltern übertragen. Es kann zwar angenommen werden, dass zwischen dem Beklagten als Träger des Jugendamts und den Pflegeeltern ein Vertragsverhältnis zumindest konkludent zustande gekommen ist, indem das Pflegekind in die Obhut der Pflegeeltern gegeben wurde. Dabei handelt es sich aber lediglich um privatrechtliche Vertragsbeziehungen (BVerwG, FEVS 29, 221; OVG Berlin, NDV 1983, 91; OVG Münster, NDV 1986, 410; Schellhorn, a.a.O., § 33, Rn. 16). Dafür spricht auch das von den Klägerinnen vorgelegte Muster eines Bereitschaftspflege-Vertrags, wobei der Beklagte die Verwendung von schriftlichen Bereitschaftspflegeverträgen allerdings bestreitet.

bb) Eine Amtshaftung kann aber auch gegeben sein, wenn die öffentliche Hand sich zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben privater Mittel bedient und insoweit die Durchführung der öffentlichen Aufgaben auf die Ebene des Privatrechts verlegt. Entscheidend ist hierbei, ob die öffentliche Hand in so weitgehendem Maße auf die Durchführung Einfluss nimmt, dass sie die Tätigkeit wie ihre eigene gegen sich gelten lassen und es so angesehen werden muss, wie wenn der Beauftragte lediglich als Werkzeug der öffentlichen Behörde bei der Durchführung ihrer hoheitlichen Aufgaben tätig geworden wäre (BGHZ 48, 98; BGHZ 121, 161). Danach kann sich die öffentliche Hand jedenfalls im Bereich der Eingriffsverwaltung der Amtshaftung für fehlerhaftes Verhalten ihrer Bediensteten grundsätzlich durch einen privatrechtlichen Vertrag nicht entziehen (BGHZ 121, 161).

Eine Tätigkeit mit hoheitlichem Charakter im Bereich der Eingriffsverwaltung ist bei der Betreuung im Rahmen der Bereitschaftspflege jedenfalls bei Zustimmung des Sorgeberechtigten aber nicht anzunehmen. Soweit eine vorläufige Schutzmaßnahme nach den §§ 42, 43 SGB VIII einen Eingriff in das elterliche Sorgerecht darstellen kann, ist dieser auf die unmittelbare Herausnahme und Unterbringung des Kindes durch das Jugendamt beschränkt. Sobald die sorgeberechtigte Mutter in die Unterbringung bei Pflegeeltern - sei es auch nur im Rahmen der Bereitschaftspflege - eingewilligt hat, liegt ein Eingriff in ihr Sorgerecht durch eine hoheitliche Maßnahme nicht mehr vor.

Außerdem üben die Pflegeeltern die Betreuung auch bei der Bereitschaftspflege weitgehend ohne die Einflussnahme des Jugendamts aus. Eine bis ins Einzelne gehende Mitsprache des Jugendamts bei der Erfüllung von Betreuungsaufgaben durch die Pflegeeltern ist schon tatsächlich nicht möglich. Auch würde eine übermäßige Regulierung nicht dem Wohl des Kindes dienen (§ 42 Abs. 1 Satz 5 SGB VIII), da eine Integration des Kindes in die Pflegefamilie, sei es auch nur vorübergehend, nicht möglich wäre. Außerdem würde eine starke Einflussnahme durch das Jugendamt auch dem Grundgedanken des Jugendhilferechts, wonach das Jugendamt nur beratend und unterstützend tätig sein soll (BGH NJW 2005, 68; BT-Drucks. 11/5948, Vorblatt), widersprechen.

Der kurze Zeitraum der Bereitschaftspflege dürfte zwar noch nicht unter den Schutz von Art. 6 Abs. 1 und 3 GG fallen. Eine geschützte Grundrechtsposition ist erst dann gegeben, wenn bei einem länger andauernden Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und den Pflegeeltern eine gewachsene Bindung entstanden ist (BVerfGE 68, 176). Allerdings ist vorliegend zu sehen, dass die Bereitschaftspflege in eine dauerhafte Hilfsmaßnahme mit Vollzeitpflege übergehen sollte. Auch dies spricht dafür, den Pflegeeltern die Betreuung des Kindes bereits in einem frühen Stadium selbständig zu überlassen.

2.

Eine Haftung des Beklagten gemäß den §§ 831, 823 BGB für die Pflegeeltern als Verrichtungsgehilfen scheidet aus. Hierzu hat das erstinstanzliche Gericht zutreffend ausgeführt, dass die Pflegeeltern nicht in die Organisation des Landkreises einbezogen und weisungsabhängig sind, sondern ihre Pflegeverpflichtung aufgrund des mit dem Landkreis bestehenden Pflegevertrages selbständig ausüben. Außerdem würde eine Haftung auch im Hinblick auf den Entlastungsbeweis nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB ausscheiden. Es ist unstreitig, dass das Jugendamt bei der Auswahl der Pflegeeltern und auch bei deren Überwachung die erforderliche Sorgfalt beachtet hat.

3.

a) Auf den Pflegevertrag zwischen dem Beklagten und der Pflegefamilie können die Klägerinnen Ansprüche nicht stützen. Die Rechtsnatur von Pflegeverträgen ist umstritten. In Betracht kommt ein Auftragsverhältnis nach § 662 BGB mit Elementen des Dienst-, Miet-, und Werkvertrags (Schellhorn, a.a.O., § 33, Rn. 16) als Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte. Rechtsfolge wäre, dass das Kind bei Schlechterfüllung oder Schutzpflichtverletzung unter dem Gesichtspunkt der positiven Forderungsverletzung Schadensersatzansprüche geltend machen könnte. Etwaige Ansprüche könnten sich dann aber jedenfalls nur gegen die Pflegeeltern richten, nachdem es lediglich um deren Leistungspflichten aus dem Vertragsverhältnis geht.

b) Ein Vertragsverhältnis zwischen dem geschädigten Kind und dem Beklagten liegt im Übrigen nach den Darlegungen der Klägerinnen nicht vor. Daher scheidet auch eine Haftung des Beklagten für ein etwaiges Verschulden der Pflegemutter als Erfüllungsgehilfin (§ 278 BGB) aus.

4.

Auch aus dem Gesichtspunkt der Geschäftsführung ohne Auftrag ergibt sich ein Schadensersatzanspruch des Kindes nicht. Insoweit hat das erstinstanzliche Gericht zutreffend darauf abgestellt, dass die Handlungen des Jugendamts in Erfüllung eigener, gesetzlich vorgesehener Pflichten erfolgten. Außerdem kann allenfalls eine Geschäftsbesorgung für die sorgeberechtigte Mutter des Kindes, nicht aber für das Kind selbst angenommen werden.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 97 Abs. 1, 100 Abs. 1. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen vor.

Ende der Entscheidung

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